Das Sozialwissenschaftliche Gymnasium feierte heute gemeinsam mit Schüler/-innen und Lehrer/-innen den alljährlichen Abschluss in die Weihnachtszeit in der Kilianskirche Heilbronn. Wir wünschen allen eine besinnliche Zeit!
Die Veranstaltung wurde mit folgenden Worten eröffnet:
„Jedes Jahr, wenn ich diese Rede vorbereite und mir noch einmal vor Augen führe, was in den vergangenen Monaten jenseits der überschaubaren, geschützten Welt unserer Schulen geschehen ist, stelle ich das eigentlich immer Gleiche fest: Es wäre ein leichtes, von Katastrophen zu berichten, von Krisen und Kriegen, von Ungerechtigkeiten, von Unzulänglichkeiten, von Armut und Ausgrenzung, von ideologisch oder religiös verbrämtem Populismus, von Feindseligkeit, von Gewalt, von Hass.
Ich will das – hier und heute – nicht tun.
Am kommenden Sonntag ist der vierte Advent und Heiligabend. Wir feiern die Geburt Jesu Christi – und ich freue mich sehr, dass uns Timea später die Geburt Jesu Christi, also: die Weihnachtsgeschichte, nach dem Evangelium des Lukas hier vorlesen wird. Mit Jesus Christus ist uns der im Alten Testament verheißene „Friedensfürst“ erschienen – und darüber, über den Frieden, möchte ich sprechen.
Frieden, das bedeutet in unserem Sprachgebrauch viel zu häufig – und viel zu kurz greifend – die Abwesenheit von Krieg, mithin die Abwesenheit von gewalttätigen Auseinandersetzun-gen. In Wirklichkeit meint der Begriff des Friedens mehr: Das althochdeutsche „fridu“ ist dem Wortsinne nach zu übersetzen mit „Schonung“ oder „Freundschaft“. Unser Grundgesetz, das in Artikel 1,1 mit dem bekannten Satz beginnt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, formuliert daran anschließend in Artikel 1,2, dass wir alle uns: „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekennen. Unsere Verfassung ist eindeutig: Nur dort, wo die Menschenrechte Grundlage des Zusammenlebens sind, kann Frieden und Gerechtigkeit geschaffen werden. Und eindeutig ist unser Grundgesetz auch hierin: Frieden ist eines der höchsten Verfassungsgüter.
Derzeit toben auf fünf der sieben Kontinente insgesamt mehr als 40 Kriege oder Bürgerkrie-ge. Es steht nicht in unserer Macht, diese Kriege zu beenden. Wie sollen wir jene Mächtigen erreichen, die ernsthaft glauben, Aggression und Annexion, terroristische Überfälle, Blockaden, Luftangriffe und geopolitisches Muskelmessen seien ein probates Mittel der Politik?
Was aber in unserer Macht steht, ist: Frieden zu leben, friedlich und friedfertig zu leben. Denn Frieden meint in Wirklichkeit eine innere Haltung. Friedlich und friedfertig leben bedeutet die fortwährende Bereitschaft, einander zuzuhören, aufeinander zuzugehen, Unterschiede und unterschiedliche Meinungen zu akzeptieren, im Dissens nach dem möglichen Konsens zu suchen, im Gespräch Empathie, Toleranz und Offenheit zu leben, wenn nötig: vorzuleben. Frieden bedeutet Vertrauen zu schaffen, dem Gegenüber auch in schwierigen Momenten zugewandt zu bleiben, ihm das Gefühl zu vermitteln, mit seinen Problemen wahrgenommen zu werden. Frieden bedeutet, sich Zeit zu nehmen, sich aufeinander einzulassen, auch: Vergangenes loszulassen, um miteinander und füreinander Zukunft zu denken, Zukunft zu schaffen. Und nicht zuletzt kann Frieden auch bedeuten, geduldig und beharrlich am Willen zum Austausch festzuhalten.
Der Dichter Friedrich Hölderlin, der seine Kindheit nur unweit von hier, in Lauffen am Neckar erlebt hat, formuliert in seinem großen Gedicht „Die Friedensfeier“ die wundervollen Verse:
„Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.“
Hölderlin bedeutet uns in diesen Versen, dass wir einander erfahren, indem wir miteinander sprechen – nicht allerdings ohne sich zu wünschen, dass die Menschen, um in Frieden zu leben, jenseits des Gesprächs im Gesang, in melodischem Einklang und in Harmonie zuei-nander finden mögen. Der Schritt vom Gespräch zum Gesang scheint ein weiter – in Wirk-lichkeit besteht er aus einer Vielzahl kleiner Schritte.
Dieser Tage haben alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kolping-Bildungszentrums von Dir, liebe Anja, die alljährlichen Weihnachtsgrüße erhalten. Darin zitierst Du eine Passage aus Michael Endes Kinderbuchklassiker „Momo“, nämlich jenes 4. Kapitel, in welchem Be-ppo, der Straßenkehrer, (von dem es im Text heißt, dass manche Leute der Ansicht wären, er sei nicht ganz richtig im Kopf) der Protagonistin Momo erklärt, wie man seine Arbeit tun solle. Nämlich so, ich zitiere:
„Es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schreck-lich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man.
Er [Beppo] blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: Und dann fängt man damit an, sich zu beeilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man auf-blickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.
Er [Beppo] dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.
Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: Dann macht es Freude; das ist wich-tig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.
Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort: Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste.
Er nickte vor sich hin und sagte abschließend: Das ist wichtig.“
Beppos Haltung taugt. Sie könnte uns allen zur Orientierung dienen: Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, könnten die lange Straße eines Schuljahres als einen Weg vieler kleiner Schritte begreifen. Ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, könntet die lange Straße zum Abitur als einen Weg vieler kleiner Schritte begreifen. Und wir alle könnten beharrlich – und ohne außer Atem zu geraten – daran festhalten, jeden Tag den langen Weg zu einem – zumindest in unserem SG – wirklich gelebten Frieden gemeinsam in kleinen Schritten zu tun. Ich für meinen Teil glaube fest daran, dass dies möglich ist. Am Ende würde diese lange Straße für jeden Einzelnen von uns übrigens auch bedeuten: einen Weg voller kleiner Schritte zu einem inneren Frieden, aus dem die Kraft erwächst, nach außen Frieden zu leben und Frieden zu wahren. Nicht zuletzt dies ist die Botschaft des Friedensfürsten und des Weihnachtsfestes, das wir alle in vier Tagen feiern werden. Es ist übrigens auch die Botschaft jenes Theaterstückes „Hair“, das viele von uns in der vergangenen Woche gesehen haben, und das mit der Friedens-Hymne „Let the sun shine in“ endet.
Ich wünsche uns allen friedliche und friedvolle Weihnachten, ich wünsche uns allen ruhige Tage zwischen den Jahren, ich wünsche uns allen einen – je nach Vorhaben – entspannten oder spektakulären Rutsch in das neue Jahr 2024, von dem ich mir wünsche, dass es mehr Frieden und mehr Sonnenschein auf die Welt bringen möge als wir derzeit erleben. Dann freue ich mich darauf, euch alle, Sie alle, gesund wiederzusehen.
Frohe Weihnachten.“
Text: Holger Bäuerle (Stellvertretende Schulleitung)